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Jedes Jahr treffen sich in Dhaka, Bangladesch bis zu drei Millionen Menschen der Missionsgemeinschaft Tablighi Jamaat zu ihrem jährlichen Treffen Bishwa Ijtema. Es ist das größte Pilgertreffen nach Mekka. Für Shaheen Dill-Riaz sind es unglaubliche und neue Bilder, die er mit seiner Kamera einfängt, denn als er 1992 das Land verlassen hat, gab es so etwas nicht. Er beschließt zu den Anfängen zurückzukehren, um diese neue Ausbreitung des Islam in Bangladesch zu verstehen und zu den Madrasas, den Koranschulen zu gehen.
Trotz des traditionelles Bilderverbots gelingt es ihm mit seiner Kamera Zugang zu den Madrasas zu bekommen und Lehrer, Schüler und Eltern zu porträtieren.
Besonders eindrucksvoll sind die Kinder in der Koranschule in Amirabad. Sie wohnen und lernen in der Madrasa. Insgesamt gibt es neun Räume in denen der Koran gelehrt wird. Jeder Lehrer ist für 70 Schüler zuständig. Freizeit gibt es kaum. Geweckt werden sie um zwanzig vor vier. Fast den ganzen Tag rezitieren sie den Koran auf arabisch und lernen ihn auswendig – ohne die Wörter zu verstehen. Dabei sitzen sie diszipliniert auf dem Fussboden, vor sich in kleinen
Gestellen liegt der Koran – sie sollen das heilige Buch weder in der Hand halten, noch es auf den Fussboden legen. Während sie rezitieren, bewegen sie sich vor und zurück. Die Schwingungen des Oberkörpers sollen helfen den Takt der kosmischen Zeit zu halten, die Diesseits und Jenseits verbindet. Die Kinder, die Shaheen Dill-Riaz befragt, sind seit ungefähr einem Jahr da. Wieviel sie in dieser Zeit auswendig gelernt haben, will er wissen. »Vier Seiten«, sagt eines der Kinder. Insgesamt sind es 6234 Verse, die sie am Ende ihrer Ausbildung gelernt haben werden – sie dürfen sich dann Hafiz nennen und können als Koranlehrer, in einer Moschee oder als Geistlicher bei Feierlichkeiten jeder Art, wie Hochzeiten, Todesfällen oder Einweihungen arbeiten.
Einer dieser Koranlehrer ist Mohammed Ismael. Er stammt aus sehr armen Verhältnissen. In die Madrasa ist er gekommen, weil sein ältester Bruder Koranlehrer war. Für ihn ist es ein großes Geschenk als Koranlehrer arbeiten zu dürfen, obwohl er, um seine Eltern zu versorgen, sein Religionsstudium abrechen musste und seitdem als Hafiz arbeitet.
Tatsächlich ist für die armen Schichten der Besuch einer Madrasa etwas, auf das sie stolz sind. Ein Hafiz in der Familie garantiert den Eltern ein gutes Leben im Jenseits und eine Belohnung am Tag des jüngsten Gerichts. Neben diesen spirituellen Vorteilen bietet die Ausbildung zum Hafiz vielen Kindern eine bessere und abgesicherte Zukunft als Koranlehrer – wenn sie denn diese harte Zeit überstehen. Bricht ein Schüler ab, so hat dies fatale Folgen, denn oft ist es zu spät eine staatliche Schule zu besuchen oder eine andere Ausbildung zu machen. Viele dieser ehemaligen Madrasa Schüler sind arbeitslos, wie Kamrul Hassan. Einige wenige wie Rayhan Hossain haben den Absprung geschafft, mit viel Unterstützung durch seine Eltern. Nun hofft er auf einen guten Abschluss an der Universität.
Für Shaheen Dill-Riaz hatten seine Eltern einen Madrasa Besuch nicht vorgesehen. »Was wenn ich in einer Madrasa gewesen wäre?« will er von ihnen wissen. »Um Himmels willen« sagt seine sympatische und kecke Mutter mit einem Lachen, »Ich hätte diese Madrasa höchstpersönlich demoliert.« Nichtsdestotrotz ist Religion ein wichtiges Thema für sie.
Nur wenige trauen sich ihre Kritik öffentlich zu äußern. Einer der wenigen ist Prof. Salimullah Khan, der fundiert Auskunft gibt. Die Ausbildung sei sehr einseitig, sagt er, doch man müsse die Geschichte der Madrasas kennen, um sie zu verstehen. Denn einst waren die Madrasas die einzige Bildungseinrichtung für Muslime, äußerst vielfältig und fungierten nicht nur als Religionsschule. Sie wurden als Gegenentwurf zum britischen Bildungssystem gegründet das wegen des Kolonialismus abgelehnt wurde – legendär war hier die Schule in Deoband. Die klassischen Madrasas haben ihre Unabhängigkeit zum Staat erhalten und finanzieren sich bis heute aus den oft großzügigen Spenden der Moscheebesucher. Prof. Salimullah Khan kritisiert vor allem die Einseitigkeit der Bildung und die geringe Bereitschaft moderne Entwicklungen zuzulassen. So sei es zum Beispiel unverständlich warum immer noch ausschließlich auf Urdu oder Arabisch unterrichtet werde, anstatt in der Landesprache Bengali. Deshalb seien viele Schüler beruflich auch so isoliert und könnten nur als Hafiz oder in einer Moschee arbeiten.
Für Sharfuddin, der seit seinem Madrasa Abschluss als Imam in einer Moschee arbeitet, ist ausschließlich die religiöse Ausbildung wichtig. Denn seiner Meinung nach ist die weltliche Bildung nur für das irdische Leben notwendig, aber für das Leben im Jenseits völlig irrelevant. Deswegen sollte auch der Staat die Menschen zwingen nach den islamischen Gesetzen zu leben. Eine Madrasa Ausbildung ist für ihn eine dringende Notwendigkeit.
CREW
Regie: Shaheen Dill-Riaz
Buch: Shaheen Dill-Riaz
Kamera: Shaheen Dill-Riaz
Schnitt: Andreas Zitzmann
Ton: Mejbah Uddin
Musik: Eckart Gadow
Produktion: Shaheen Dill-Riaz, MAYALOK Filmproduktion
Grading: Stefan Engelkamp
Verleih: MAYALOK Filmproduktion & Verleih
Shaheen Dill-Riaz‘ Filmografie (eine Auswahl)
2021 Die Chauras | TV-Doku | HD | 43 min | ZDF-ARTE (in Produktion)
2020- Past is Present | Kino-Doku | HD | 90 min | Hessen Film(in Post-Produktion)
2019 Bamboo Stories | Kino-Dokumentarfilm | HD | 96 min | SWR-ARTE
2018 Bambusflößer von Bangladesch | TV-Zweiteiler | HD | je 43 Min. | SWR-ARTE
2014 Fernglück | Kino-Dokumentarfilm | HD | 91 min | 3sat
2012 Der Vorführer | TV-Doku | HD | 29 min | 3sat
2012 Schulter an Schulter | TV-Doku | HD | 60 min | ZDF
2011 Der Netzwerker | TV-Doku | HD | 30 min | 3sat
2009 Korankinder | Kino-Dokumentarfilm | HD | 87 min | ZDF
2008 Eisenfresser | Kino-Dokumentarfilm | HD / 35mm | 85 min | ARTE / BR / RBB
2005 Die Glücklichsten Menschen der Welt | Kino-Doku | HD | 92 min | ZDF
2002 Sand und Wasser | Kino-Doku | Digi-Beta SP | 110 min | RBB
Auszeichnungen
2020 Nominiert für den Deutschen Dokumentarfilmpreis / SWR für Bamboo Stories
2020 Global Perspektive Award, Frankfurt, für Bamboo Stories
2019 Bester Film, Film Southasia, Kathmandu / Nepal für Bamboo Stories
2019 BIM-Award, Trento Film Festival, Trento, Italien für Bamboo Stories
2013 Eine-Welt-Filmpreis NRW, 3. Preis, für Der Vorführer
2013 GRIMME-PREIS: Sonderpreis Kultur des Landes NRW, für Der Vorführer
2012 GROSSE KLAPPE Film Preis, Duisburger Filmwoche, für Der Vorführer
2010 GRIMME-PREIS, Kategorie: Information & Kultur, für Eisenfresser
2010 Publikumspreis, Duisburger Filmwoche, für Korankinder
2009 Erster Preis, CINEMAM PLANETA, Mexico, für Eisenfresser
2009 Grand Prize, EARTH VISION, Tokyo, für Eisenfresser
2008 Preis der Studenten Jury bei CINEMAMBIENTE, Turin, für Eisenfresser
2008 Erster Preis, Hachenburger Filmfest 2008, für Eisenfresser
2008 Erster Preis, Achtung Berlin – New Berlin Film Award, für Eisenfresser
2008 Erster Preis, DOCAVIV Film Festival, Tel Aviv, für Eisenfresser
2007 Grand Prix, International Environmental Film Festival, Paris, für Eisenfresser
2007 Erster Preis, Film South-Asia Film Festival, Kathmandu, für Eisenfresser
2007 Erster Preis, Eine-Welt-Preis NRW, Köln, für Eisenfresser
2003 Spezialpreis der Jury, Film South Asia Festival, Nepal, für Sand und Wasser
2003 GRAND PRIX, El Festival del Riu, Barcelona, für Sand und Wasser
2003 Spezialpreis der Jury, DOCAVIV Film Festival, Tel Aviv, für Sand und Wasser
2002 Babelsberger Medienpreis/ORB-Dokumentarfilmpreis, für Sand und Wasser
Der Film ist nicht wirklich nur über Koranschulen. Ich versuche in jedem meiner Filme eine Welt zu entdecken, wo ich bis jetzt nicht war, und in die ich Menschen aus Europa als Zuschauer mitnehmen kann. So bin ich auf das Thema Koranschulen gekommen, weil es auch etwas zu tun hat mit der jetzigen Situation in Bangladesch. Man hört dort sehr oft, dass es immer mehr Koranschulen gibt. Und sehr oft hört man auch, dass diese Koranschulen zwar nicht direkt mit Extremisten zu tun haben, aber es wird ihnen immer wieder vorgeworfen, dass sie politisch aktiv sind, was ich in meinem Film nicht nachweisen konnte. Mich hat vor allem interessiert, was Koranschulen überhaupt sind und welchen Stellenwert sie in Bangladesch einnehmen.
PRESSE
„Shaheen Dill-Riaz’ Film eröffnet den Blick in eine Welt, die auch dem Regisseur vorher fremd war. In ruhigen Bildern, die den Menschen sehr nahe kommen.“ FAZ (31.5.2009)
„2003 formulierte der damalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld: ‚Können wir jeden Tag mehr Terroristen festnehmen und töten oder von ihren Taten abhalten, als die Madrasas und die radikalen Geistlichen rektrutieren, ausbilden und auf uns loslassen?‘ Wenn man, wie Dill-Riaz, genauer hinsieht, kann man diesen Kausalzusammenhang getrost als politische Propaganda abtun. Gleichzeitig versteht man, wie die Spaltung der bengalischen Gesellschaft in Arm und Reich auch eine prekäre politische Spaltung erzeugt hat. „Korankinder“ baut klug und sachlich eine Argumentationskette auf – unvoreingenommen, aber eindringlich und durchaus exemplarisch.“ Filmdienst (12.9.2009)
„… Man spürt, dass die Wut von Dill-Riaz wächst, je länger er sich mit dem System Madrassa beschäftigt. Er gleicht die Wut mit scheinbar ruhigen, neutralen Bildern aus, mit Szenen aus dem Unterricht oder vorm Zubettgehen. Doch in allen schwingt die Aggressivität der Institution mit, die nur die Unterwerfung unter die eine Aufgabe kennt – das Auswendiglernen des Korans…” Spiegel Online (2009)
“Es sind traurige, gotterergebene Jungs, die Regisseur Shaheen Dill-Riaz, selbst aus Bangladesch gebürtig, in den Schulräumen und Schlafsälen ihrer Schulen filmte, »Korankinder«, deren einzige Kompetenz in der globalisierten Digitalgesellschaft einmal ihre wortgenaue Kenntnis eines frühmittelalterlichen Buches sein wird.” Neues Deutschland (2009)
FESTIVALS
Uraufführung: Filmfestival Max Ophüls Preis 2009
Achtung Berlin 2009
DOK.FEST München 2009
AWARDS