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In der westdeutschen Provinz kämpfen osteuropäische Leiharbeiter*innen des größten deutschen Schweineschlachtbetriebs ums Überleben und Aktivist*innen, die sich für deren Rechte einsetzen, mit den Behörden. Zur gleichen Zeit proben Münchener Gymnasiast*innen das Bertolt-Brecht-Stück „Die Heilige Johanna der Schlachthöfe“, das sich schon 1931 mit Marktmacht und Monopolbildung und der Ausbeutung und Aussperrung von Arbeiter*innen beschäftigte – und reflektieren über die deutschen Wirtschaftsstrukturen und ihr Verhältnis dazu.
Verwoben mit den Gedankengängen der Jugendlichen und ihrer Auseinandersetzung mit dem Text in den Proben erzählt der Film in unterschiedlichen Fragmenten über Bedingungen und Facetten von Leiharbeit und Arbeitsmigration in Deutschland. Ein Film über den Zustand der Arbeit und Fragen der Moral, wo offene Landes- und Marktgrenzen für die einen Gefahr und für die anderen Kapital bedeuten.
CAST
Inge Bultschnieder
Peter Kossen
Alexander Klessinger
Und Leiharbeiter*innen, die wir nicht namentlich nennen möchten, um sie zu schützen.
CREW
Buch und Regie: Yulia Lokshina
Kamera: Zeno Legner, Lilli Pongratz
Montage: Urte Alfs, Yulia Lokshina
Ton: Yulia Lokshina
Sounddesign: Andrew Mottl
Geräusche: Melanie Jilg, Cornelia Böhm
Tonmischung: Christoph Merkele
Farbkorrektur: Andi Lautil
Produzenten: Isabelle Bertolone, Marius Ehlayil
Herstellungsleitung HFF: Christine Haupt
Projektleitung HFF: Prof. Karin Jurschick, Prof. Tom Fährmann
Produktion: wirFILM in Zusammenarbeit mit HFF München
Förderung: FFF Bayern (Abschlussfilm-Förderung)
Verleihförderung: Hessenfilm und Medien
Yulia Lokshina ist 1986 in Moskau geboren. 2011 nimmt sie ihr Studium der Dokumentarfilmregie an der Hochschule für Fernsehen und Film München auf. Während ihrer Zeit an der HFF realisiert sie u.a. die kurzen Dokumentarfilme Tage der Jugend und After War.
Im Rahmen ihrer Arbeit am Forum Internationale Wissenschaft der Universität Bonn entstehen parallel audiovisuelle Projekte an der Schnittstelle von Film und Wissenschaft sowie Vorträge und Publikationen zum Dokumentarischen.
Tage der Jugend wurde 2016 auf der Duisburger Filmwoche uraufgeführt und 2017 mit dem Starter Filmpreis der Stadt München ausgezeichnet.
Für die experimentelle Videoarbeit Subjektive Hill erhält sie 2018 zusammen mit der Künstlerin Angela Stiegler das Medienkunst-Stipendium der Kirch Stiftung sowie den Videodox Förderpreis 2019. Ihr Diplomfilm Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit wurde auf dem Filmfestival Max Ophüls Preis 2020 als Bester Dokumentarfilm und beim Dokfilmfest München 2020 mit den megaherz Student Award ausgezeichnet.
2020 REGELN AM BAND, BEI HOHER GESCHWINDIGKEIT Dokumentarfilm, 92 Min.
2019 SUBJECTIVE HILL, Exp. Dokumentarfilm, 30 Min.
2017 AFTER WAR Dokumentarfilm, 29 Min.
2016 TAGE DER JUGEND Dokumentarfilm, 30 Min.
Der Film beginnt mit der Geschichte eines polnischen Arbeiters, der in einem deutschen Fleischwerk unter unklaren Umständen in eine Maschine gezogen wurde und ums Leben gekommen ist. Die wenigen rekonstruierbaren Einzelteile dieses Falls werden wiederholt von der Frage umklammert, ob man sich erinnern könne. Natürlich kann man das nicht, es ist ein Fall unter vielen. Der Prolog versucht auf eine Perspektive hinzuweisen, mit der wir eine Struktur betrachten können, die immer aus Einzelfällen besteht und doch ein System bildet. Wann ist etwas als Unfall zu bezeichnen? Und kann jemand für einen Unfall zur Verantwortung gezogen werden? Die Nacherzählung dieses Falls geht auch der Frage nach, wie wir über etwas sprechen – wie unsere Sprache das Leben einordnet und strukturiert.
Der Film wendet sich Leuten zu, die keine Sprache haben. Nicht im eigentlichen Sinne, denn sie können natürlich kommunizieren, aber sie kennen nicht die Sprache der Verträge und Fußnoten, die für eine begrenzte Zeit ihr Leben am Fließband regelt. Das Band, das immer schneller läuft und wie ein sich teilender Zellorganismus immer weiter Material nachliefert, auch wenn die Hände nicht hinterherkommen. Die Begrenzung der Zeit ist sowohl eine Erlösung, denn nur so ist diese (Arbeits-)Zeit zu ertragen, als auch ein Übel. Die Leiharbeiter*innen haben keine Zeit und keine Sprache, in der sie sich organisieren, in der sie sich untereinander solidarisch erklären können. Wir, Danebenstehende, Daraufschauende, haben eine Sprache, aber wir wissen auch nicht genau wohin damit. Und so reden wir und vergessen, rechtfertigen und schämen uns, nehmen Abstand von der Sache, rufen zum Aufstand auf, reden weiter und vergessen wieder, mit der Zeit.
An vielen Stellen geht es in dem Film um das nicht im Blick stehende, das in Vergessenheit Geratene: versteckte Waldcampingplätze, vergessene Arbeitsunfälle, die gedehnte Zeit auf dem Nachhauseweg in der Nacht; um Lehrer, die an Protest glauben und Jugendliche, die nicht rebellieren wollen. Um die unsichtbare Ausbeutung und vage Hilflosigkeit gegenüber globaler Wirtschaft und persönlichem Alltag. Aber auch um das diffuse Feld, das sich zwischen den Leidtragenden und den Verantwortlichen befindet. Das Feld, in dem wir uns selbst verorten mit all unseren Illusionen und unserer Naivität. Dieser Raum entsteht im Film zwischen zwei Erzählsträngen, die sich umkreisen und gegenseitig kommentieren, zwischen Bild und Musik, die das Fleisch der Erzählung in Fragmente zerteilen und neu vernähen.
PRESSE
Süddeutsche Zeitung: „.. ist eine raffinierte Studie über Wirtschaftsstrukturen, Konsumverhalten und Fragen der Verantwortung. Plötzlich hat Lokshina damit aber den Film zur Stunde gemacht.”
„Es sind die leiseren Momente, die am Ende bleiben.“
SR 2: „Die Dokumentarfilmerin Yulia Lokshina hat nicht erst seit dem Fall Tönnies ein Auge auf die deutsche Fleischindustrie und ihren Umgang mit den meist osteuropäischen Ausbeinern.“
WDR: „Die Dokumentarfilmerin Yulia Lokshina hat vor drei Jahren begonnen, die Zustände in der ostwestfälischen Fleischindustrie zu durchleuchten.“
Berliner Zeitung: „In exzellenten Bilder und genau komponierter Dramaturgie zeigt Lokshina westfälische Fleischfabriken und die schlechte Behandlung der Menschen, oft Migranten, die dort arbeiten – mitten in Deutschland glaubt man plötzlich, die Dritte Welt zu sehen.“
Kirche und Leben: „Brandaktuelle Kapitalismuskritik.“
Artechok: „Der Film fragt auch danach, wer etwas ändern muss: Die Gesellschaft, der Konsument, die Politik oder auch die Unternehmen.“
Melodie und Rhythmus: „Die ‚weißen Nigger‘ der Schlachthöfe“
Saarbrücker Zeitung: „Von der ersten Minute an ist klar: Mit einem guten Gewissen wird keiner den Kinosaal verlassen – und das ist gut so.“
Filmlöwin: „Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“ ist eine raffinierte Studie über Wirtschaftsstrukturen, Konsumverhalten und Fragen der Verantwortung.
Filmdienst: „Höhepunkt auf dem Filmfestival Max Ophüls Preis“ „Zwei Wirklichkeiten zwischen Migration und Komfortzone”.
INTERVIEW MIT YULIA LOKSHINA
Wie kam es, dass du dich dem Thema der Leiharbeit in der Fleischindustrie angenommen hast?
Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit war mein Abschlussfilm an der HFF München und ist ohne Senderbeteiligung entstanden. Mit dem Abschlussfilm wollten wir einen Film machen, der mehr oder weniger mit unserer unmittelbaren Lebenswirklichkeit zu tun hat, über Dinge, die ganz in der Nähe passieren und erstaunlich unsichtbar bleiben. Ich selbst bin in Moskau geboren und schätze sehr die Bewegungsfreiheit des europäischen Raums. Dennoch sieht man am Beispiel der deutschen Fleischproduktion auch, welche Risiken innerhalb einer Freiheit durch eine unregulierte Produktion ebenfalls entstehen.
Welchen Fokus legst du dabei in deinem Film?
Der Film ist eine Reflexion über die bestehenden Verhältnisse, darüber, wie unterschiedliche Schichten in unserer Gesellschaft parallel existieren, warum sie das tun und wie sich das über Jahre halten kann.
Dieser Begriff der Parallelgesellschaft wird oft als Stütze benutzt, mit der man sich ein Problem vom Hals hält. Das Problem ist benannt und abgesteckt, man nimmt sich dadurch aber auch den Handlungsspielraum. Uns ging es weniger darum, Einblicke in diese isolierten Gemeinschaften zu bekommen, sondern strukturell zu betrachten, wie solche „Parallelgesellschaften“ entstehen und erhalten werden.
Wie lange hast Du vor Ort in NRW und in Bayern gedreht und welche Herausforderungen hast du erlebt?
Insgesamt haben wir ca. 1 Jahr recherchiert, ein weiteres Jahr gedreht und im Laufe des 3. Jahres geschnitten und postproduziert.
In NRW gab es eine große Instabilität mit den Protagonistinnen, aufgrund ihrer Arbeitssituation und der Verträge. Wenn man Arbeiterinnen im Februar kennengelernt hatte, konnte man nicht davon ausgehen, dass sie im Mai noch da sind um sie zu begleiten. Beziehungen und Vertrauen brauchen aber Zeit. Neben den unterschiedlichen Sprachen, gab es viele emotionale Hürden und Unsicherheiten die erst überwunden werden mussten.
Mit der Schulklasse in Bayern war es organisatorisch einfacher, aber auch hier war es ein Risiko. Als wir uns für die Schule und den Lehrer noch in den Sommerferien entschieden hatten, gab es noch keine Gruppe. Der künftige Verlauf der Proben war also sehr offen und die Gruppendynamik noch nicht abzusehen.
Durch Corona hat die Fleischindustrie eine große Aufmerksamkeit erfahren. Wie nimmst du die breite mediale Berichterstattung und Empörung wahr und was glaubst du, wird sich nun ändern?
Wir haben gelernt, Bilder und Vorgänge sehr schnell in unser Bewusstsein zu integrieren und dadurch anzunehmen. Corona wirkte am Anfang seiner Ausbreitung wie eine Art Kontrastmittel, mit dem das, was übersehen wurde, plötzlich nicht mehr übersehen werden konnte. Es scheint aber, als hätte sich damit die Risikoverteilung nicht verschoben, sondern erstmal verschärft. Mit der Sichtbarkeit sind auch neue Zustände entstanden, in denen mehrere Tausend Menschen in Gütersloh in Quarantäne mussten und hinter Bauzäunen weggesperrt wurden. Auch diese Bilder wurden nach erster Empörung zu schnell als etwas Gegebenes ins kollektive Bewusstsein integriert. Nach der ersten Welle wird auch schon wieder geschlachtet, die Menschen leben und arbeiten erstmal wieder wie zuvor. Die Ausbeutung war jahrelang grundlegender Baustein der Unternehmenspolitik und Teil der Unternehmensethik in diesen Betrieben. Das ändert sich nicht mit einem Schlag und erst recht nicht von alleine.
Man sieht in dem Film nie arbeitende Menschen oder tote Tiere. Warum?
In den Betrieben hätten wir, wenn überhaupt, nur unter strengen Auflagen drehen können und nur sehr bestimmte Abläufe. Uns haben von vorne herein Beziehungen zwischen den Menschen, die in diesen Hierarchieketten entstehen, interessiert – sowohl in der Vertikalen als auch zwischen den Arbeiter*innen auf einer Stufe – und für diese Einblicke braucht es Zeit. Daher haben wir unsere Filmarbeit auf die Außenschauplätze verlagert, die zwar allgemein zugänglich sind, an denen man aber oft vorbeiguckt, weil sie vermeintlich nicht so einen großen Schauwert haben.
Wie war eure filmische Herangehensweise? Gab es ein formales Konzept?
In dem Film kommen sehr viele Protagonistinnen und Orte vor. Gesichter spielen aber meist eine wichtigere Rolle als Orte, daher haben wir uns für das 4:3 Format entschieden. Es gibt in dem Film auch fast keine Establisher. Dafür gibt es aber immer wieder Einstellungen, die recht lange stehen dürfen, gehalten werden und ein anderes Hinschauen ermöglichen. Ein emphatisches Hinschauen, das über die bloße Information hinausgeht, wie auf das auf ein Schwein, das mehrere Minuten nach einem Ball schnappt und ihn nie bekommt.
Der Erzählstrang der Arbeiter*innen und Aktivist*innen wird kombiniert mit Münchner Gymnasiasten, die „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ von Bertolt Brecht proben. Wie ist es dazu gekommen?
Das Stück macht zum einen eine historische Achse auf, an der entlang man nachdenken kann, wie sich bestimmte Probleme und Ausbeutungssysteme halten und nicht auflösen lassen. Zum anderen war es mit dem Stück sehr spannend zu beobachten, was mit unserer Sprache passiert, mit der wir versuchen, Probleme zu benennen und Dinge zu fassen. Begriffe wie Arbeiterkampf, Sozialismus, Umverteilung und Fragen nach dem radikalen Systemwechsel wirken sehr deplatziert an einem Münchener Gymnasium (wie übrigens aber auch in Behörden), als hätte man sie längst verarbeitet und für obsolet erklärt. Wir lernen in der Schule, dass wir einen Sozialstaat haben, der für uns sorgt, und eine soziale Marktwirtschaft und dass damit alles geregelt sei. Dass dieses System aber auch große Lücken produziert, in dem das „Soziale“ nicht mehr greift, dafür haben wir oft keine Sprache mehr und sehen dann auch keine Möglichkeit zu agieren.
Wie ist die Resonanz von Jugendlichen bzw. Schüler*innen auf deinen Film?
Erstaunlich offen. Die Schüler*innen aus dem Film haben den Film gesehen und manche waren erstaunt, sich selbst, den Probenprozess und die Auseinandersetzungen aus der Distanz nochmal zu sehen und anders zu reflektieren. Es ist ja ohnehin nicht einfach, sich selbst in einem Film zu sehen, erst recht nicht als Teenager. Darüber hinaus hatten wir einige Vorstellungen mit Schulklassen und die Jugendlichen in dem Film boten ihnen einen persönlichen Einstieg in den Film und das Thema.
Was würdest du mit deinem Film gern bewirken?
Am Anfang der Pandemie war der Enthusiasmus für eine gesellschaftliche und ökonomische Umgestaltung groß und laut, er kippte aber an vielen Stellen, in den Medien, in der Politik, im Privaten, nach kürzester Zeit in Frust. Am Ende in der „Heiligen Johanna“ kommt die Figur Johanna nach vielen ausgetragenen und verlorenen Kämpfen gegen die Fleischkönige und ihre Helfer zu der Einsicht, dass das System eine grundlegende Veränderung braucht. Brecht gibt ihr die drastischen Worte: „es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht und es helfen nur Menschen, wo Menschen sind“. Diesen Satz haben wir bei den Dreharbeiten in den Proben oft gehört und sie haben sich mit der Zeit verändert. Viele in unserer Gesellschaft verstehen eine soziale und ökonomische Transformation als Gewalt und ich denke, es geht darum, sich von diesem Bild zu lösen.
An welchen Projekten arbeitest du aktuell?
Ich bereite ein künstlerisch-wissenschaftliches Projekt zu dokumentarischer Literaturverfilmung vor. Und es gibt eine Idee für einen Dokumentarfilm mit meiner Tante, die eine epochale russische Eiskunstlauftrainerin in der Sowjetunion war und sich trotz Alter immer noch nicht zur Ruhe setzt.
FESTIVALS & AWARDS
„Feinfühlig, vom ersten Moment an fesselnd und vielschichtig öffnet der Film den Blick für ein großes Problem unserer Gesellschaft. Dabei lenkt er in einer dramaturgisch sich verdichtenden Erzählung unsere Aufmerksamkeit behutsam auf das, was niemand sehen will: Die beklagenswerte Zeitlosigkeit des kapitalistischen Ausbeutungssystems manifestiert sich auch mitten in unserer Gesellschaft.
Ohne zu predigen setzt der Film auf Beobachtung, Empathie und intellektuelle Durchdringung der Thematik. Durch seine filmische Versuchsanordnung gelingt der Regisseurin ein ganz eigener Zugang, der das Publikum aufgewühlt zurücklässt.“ Jury Max Ophüls Preis 2020
Filmfestival Max-Ophüls-Preis – Gewinner Bester Dokumentarfilm
Preis der Deutschen Filmkritik 2020
Megaherz Student Award – DOK.fest MÜNCHEN – Megaherz Student Award
Preis der deutschen Filmkritik – nominiert
Kasseler Dok Fest – nominiert A 38 Produktions Grand
Fünf Seen Film Festival
Doclisboa – Gewinner Healthy Workplace Award 2020
Kirchliches Filmfestival Recklinghausen
Filmkunstfest Mecklenburg Vorpommern
Neisse Filmfestival
Internationale Filmwochenende Würzburg – Wettbewerb 2021
Shortlist Rencontres Internationales Paris/Berlin
Brechtfestival 2021