Die Schläferin

Regie: Alex Gerbaulet / 16.30 min. / 2018 / Deutsch (UT: Englisch) / Deutschland

DIE SCHLÄFERIN ist eine Annäherung an die Lebensgeschichten zweier Frauen, deren Persönlichkeiten hinter ihren Rollen als Ehe- und Hausfrauen zum Verschwinden gebracht wurden. Sie waren solange unsichtbar, bis sie selbst zu Täterinnen wurden.

Idee / Buch / Regie: Alex Gerbaulet
Produktion: Caroline Kirberg
Bildgestaltung: Jenny Lou Ziegel
Schnitt: Philip Scheffner

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Zwei Zeitungsartikel, zehn Jahre Abstand, zwei verschiedene Frauen, der gleiche Wortlaut. 2001 schreibt die Göttinger Zeitung, Margit (69) habe zurückgezogen gelebt und sei eine unscheinbare Frau gewesen. 2011 schreibt das Hamburger Abendblatt Irina (65) habe zurückgezogen gelebt und sei eine unscheinbare Frau gewesen. Bis zu dem Moment ihres Auftauchens zwischen den Zeilen eines Zeitungsartikels sind beide Frauen unsichtbar, hinter ihren Rollen als Ehe- und Hausfrauen zum Verschwinden gebracht. Lediglich einmal verschaffen sie sich für kurze Zeit Sichtbarkeit. In einem Gewaltakt. DIE SCHLÄFERIN kreist um die Zeit vor diesen Gewalttaten.

Der Kurzfilm rekonstruiert und imaginiert die Geschichten dieser beiden Frauen, die Zeit ihres Lebens fremdbestimmt werden und vergeblich um einen eigenen Ausdruck ringen, solange, bis sie die Spirale alltäglicher Gewalt nur noch durch einen eigenen Gewaltakt beenden können.
Auch die filmische Sprache bewegt sich zwischen Dokument und Fiktion. Angelpunkt ist eine Wohnung, in der ein Kühlschrank brummt, ein Topf auf dem Herd kocht, ein gedeckter Tisch steht, der Fernseher läuft. Diese filmisch als bewegte Stillleben dargestellten häuslichen Alltagsszenen suggerieren, dass etwas gerade eben oder noch nicht passiert ist. Die Figur der Hausfrau scheint omnipräsent, bleibt im Bild aber abwesend, wie auch die eigentlichen Protagonistinnen Margit und Irina unsichtbar bleiben.
Dieses Kammerspiel, das einer Heimsuchung gleicht, wird mit ruhigen Außenaufnahmen auf Stadtlandschaften und Häuser kontrastiert. Fassaden, hinter denen sich täglich häusliche Dramen abspielen, die nie nach außen dringen.

Land: Deutschland 2018
Länge: 16:30 Min.
Format: DCP (deutsch mit englischen Untertiteln), 16:9, Farbe, 5.1 / stereo

Stab
Idee/Buch/Regie: Alex Gerbaulet
Co-Regie: Mirko Winkel, Tim Schramm
Regieassistenz/Fotos: Ines Meier
Bildgestaltung: Jenny Lou Ziegel
Ton: Tom Schön
Schnitt: Philip Scheffner
Sprecherinnen: Sibylle Dordel, Alex Gerbaulet, Susanne Sachsse
Produktion: Caroline Kirberg

Produziert von: pong film GmbH
Recherche gefördert von: Stader Stiftung für Kultur und Geschichte
Produktion gefördert von: nordmedia, Der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Landschaftsverband Stade

Weltpremiere 68. Berlinale – Internationale Filmfestspiele Berlin / 13. Forum Expanded / 2018
Internationale Premiere Doclisboa – Festival Internacional de Cinema / 2018

CV Regie
Alex Gerbaulet lebt und arbeitet als Filmemacherin, Kuratorin und Produzentin in Berlin. Seit 2014 ist sie Teil der Produktionsplatform pong film. Ihre Filme sind u.a. SCHICHT (2015), TIEFENSCHÄRFE (2017, mit Mareike Bernien), DIE SCHLÄFERIN (2018).

CV Co-Regie
Mirko Winkel ist in der ehemaligen DDR geboren und lebt in Berlin. Er studierte Bildende Kunst, Performance Kunst und Choreografie. Das Spektrum seiner recherchebasierten und kontext-sensitiven Arbeit umfasst Performances, Videos, Vorträge und Gesprächsformate und Verbesserungsvorschläge.

Tim Schramm lebt als Schriftsteller und Lektor mit Schwerpunkt Belletristik in Berlin. Studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften, Neuere deutsche Literatur und Philosophie an der FU Berlin.

Autor*innenstatement von Alex Gerbaulet
Manche Geschichten finden einen und nicht umgekehrt. So war es als ich am 9. März 2011 zum ersten Mal von Irina S. gelesen habe: Irina (65) zerstückelt ihren Mann. Ihre Tat hat mich an einen Traum meiner Großmutter erinnert, den sie mir einmal in Form eines Geständnisses anvertraut hat. In ihrem Traum bringt sie ihren Mann – meinen Großvater – um und verfüttert seinen Körper an die Schweine. Später beim Schlachtfest bricht sie zusammen und hindert den Schlachter daran, ihren Mann, den sie nun in dem Schwein erkennt, umzubringen. Meine Großmutter hat sich mehr als einmal gewünscht, der Tod möge ihre glücklose Ehe beenden. Trotzdem ist sie nach dem Tod meines Großvaters nicht mehr glücklich geworden und hat sich schließlich das Leben genommen. Wenn ich an Irina S. denke, denke ich auch an meine Großmutter. Ich stelle mir vor, dass die beiden Frauen sich treffen und im Austausch zu einem anderen Ausgang ihrer Geschichten kommen. Irina S. wie auch meine Großmutter waren lange Zeit ihres Lebens unsichtbare Frauen. Unsichtbar, weil die Menschen um sie – und im weiteren Sinne die Gesellschaft – aufgehört haben, sie als Persönlichkeiten wahrzunehmen. Auch ich kann sie kaum wahrnehmen. Geistern gleich werden sie lediglich als Negativfiguren sichtbar über das, was ich über sie erfahre. Immer durch andere vermittelt. Ich nenne sie Schläferinnen, denn in dem Begriff schwingen auch die Bedeutungen Agentin und Terroristin mit. Selbstverleugnung und Schmerz als zerstörerische Kraft, aber auch als Potential, um sich neu zu erfinden. Das Wort impliziert außerdem, dass sie nicht nur Opfer sind, sondern auch Täterinnen.
In der Annäherung an die Täterin Irina S. haben mich u.a. die Bücher von Elfriede Czurda inspiriert. Vor allem ihr Roman Die Schläferin über eine Frau, die ihren Liebhaber tötet und zerteilt, um ihn ‚für immer‘ nah bei sich verwahren zu können. Das Buch ist dabei kein Horrorroman, sondern eine eindringliche Studie über Sprachlosigkeit und das Scheitern an der Aufrechterhaltung normativer Geschlechterrollen.

Statement vom Co-Autor Mirko Winkel
Die Unfassbarkeit der Tat von Irina S. regt zugleich die Fantasie der Menschen an. Jede*r versucht, eine Erklärung für diese Tat zu finden und konstruiert dafür eine eigene Wahrheit, in der Fakt und Fiktion nah beieinander liegen. Wenn die Zeitzeug*innen von dem Fall erzählt haben, dann haben sie in erster Linie über ihre Haltung zu dem Fall und somit über sich selbst gesprochen. Irina S. interessiert mich also auch als Figur, die sich nicht selbst erzählt, sondern über andere erzählt wird. Ich möchte eine dramaturgische Form finden, die sowohl dieses Bestreben nach Erklärbarkeit als auch die Leerstellen im eigenen Moralgeflecht offenlegt.

Festivals 2018/2019:
Berlinale – Internationale Filmfestspiele Berlin / Forum Expanded
EMAF – European Media Art Festival Osnabrück
Internationale Kurzfilmtage Oberhausen (arsenal screening)
Internationales Kurzfilm Festival Hamburg
Underdox FilmFestival München
Doclisboa – Festival Internacional de Cinema, Portugal
Internationales Filmfest Braunschweig
Kurz Film Festival Köln
dokumentART Festival Neubrandenburg
Kasseler Dokumentarfilm und Videofest
interfilm Festival Berlin
Internationale Kurzfilmwoche Regensburg
Nonfiktionale Bad Aibling
achtung berlin – new berlin film award
Human Rights Film Festival Zagreb, Kroatien
Filmmaker Festival Milano, Italien
Documentamadrid, Spanien
VIS Vienna Shorts Festival (Spotlight), Österreich
Huesca International Film Festival, Spanien